DEBATTE
27. Mai 2021
Eine Ordnung der künstlerischen Freiheit in Vielfalt
Gedanken zum 175. Geburtstag des Deutschen Bühnenvereins
von Carsten Brosda und Kathrin Mädler
Vor 175 Jahren wurde hier in Oldenburg der Deutsche Bühnenverein gegründet. Ziel war es damals, die Vertragsverhältnisse in Theatern und Orchestern besser und vor allem einheitlicher zu regeln. Heute ist der Bühnenverein das Forum der vielfältigsten Bühnenlandschaft der Welt.
Wir feiern unseren Geburtstag unter sehr besonderen Bedingungen. Den seit über einem Jahr andauernden Ausnahmezustand hat Max Frisch bereits 1964 beschrieben:
„[N]ehmen wir einmal an:“, sagte Max Frisch damals zur Eröffnung der Frankfurter Dramaturgentagung, „das Theater, das Sie als Intendant betreuen … ist über Nacht geschlossen worden. Außer Betrieb. Sie wissen‘s nur noch nicht. Gestern noch eine ausverkaufte Vorstellung … und heute Vormittag hat niemand einen Schlüssel mehr. Und was erstaunlich ist: man teilt es Ihnen nicht einmal mit. … Ein Passant, den Sie um Auskunft bitten, kann sich erinnern, dass hier einmal Theater gespielt worden ist, und geht freundlich weiter, als wären die Zeiten des Theaters vorbei. Nur Sie glauben noch daran und stehen da, Intendant eines Denkmals, von Tauben umgurrt.“
Ein spekulatives, undenkbares Gedankenspiel. Bis zum März des Jahres 2020.
Mit unseren Theaterschlüsseln haben wir Intendant:innen alle Gestaltungskraft abgeben müssen. Unsere eigene und die unserer Theater, unserer Ensembles, unserer Künstler:innen. Eine emotional schmerzvolle Erfahrung der Vergeblichkeit des eigenen Tuns, reine Behauptung einer Welthaltigkeit, von der wir nicht lassen wollen.
Das Theater, der Ort der Lebendigkeit, der Energie, der Gemeinschaft, der Verbindlichkeit, der Begegnung ist zu einem Denkmal mit kackenden Tauben darauf geworden; zu einem entvölkerten, verwaisten Ort; zu einem mühsam zu unterhaltenden Kosmos, der seinen Sinn und seine Berechtigung verloren hatte.
Künstlerisches Arbeiten, Vertiefen in Sprache, Spiel und Bedeutung zur absoluten Nebensache, zum Unwichtigen, zum absurden Luxus einer kleinen jammernden Gruppe verdammt, die sich in trotzigen offenen Briefen ihren Frust von der Seele schreibt.
Der Blick für das Kathartische, das Bewegende, für die tastende Suche, Magie und Glanz, das ungeheuerliche körperliche Geschehen, der beflügelnde, feierliche Klang – all das untergeordnet der funktionalen Erhaltung des Notwendigen. Aber wofür überhaupt kämpfen, wenn wir die einzigen sind, die uns vermissen? Aber sind wir das?
„Ich muß gestehen:“, sagte Max Frisch vor 57 Jahren, „die Vorstellung, daß alle Theater plötzlich außer Betrieb sind, finde ich belebend. Was unser Theater bedeutete oder nicht, nun wird es sich ja zeigen. Sollte unsere Gesellschaft sich irgendwie verändern, sei’s auch nur, daß sie sich rapider auf die Restauration hinbewegt, weil da kein Theater mehr ist, so wäre immerhin bewiesen, daß das Theater tatsächlich eine politische Anstalt ist, hätte sein können.“
Im letzten Jahr fanden wir uns vor einer verstörenden Erkenntnis: Kultur als Kern unserer Gesellschaft, als Kern alles Politischen, als Kern unseres Menschseins, als das Überflüssige, das das Eigentliche ist – diese Kultur schien verzichtbar. Der Konsens, in dem wir uns wähnten, unbegründet und unbesprochen aufgehoben. Die Suche nach Sinn und Sinnlichkeit beendet. Das öffentliche Leben verfiel. Orte, an denen wir verhandeln, wie wir leben wollen, gingen verloren.
Zugleich mussten wir erleben, wie sehr uns eine Krise aufs Materielle fixiert. Dabei brauchen wir doch gerade in Zeiten der Unsicherheit und Orientierungslosigkeit jene Irritation und Inspiration, die uns aus den ästhetisch zugespitzten Positionen der Kunst heraus anspringt.
Die Entscheidungen zur Bekämpfung der Pandemie haben nicht nur viele Künstler:innen, sondern uns alle ärmer gemacht. Was notwendig war, fühlte sich deshalb oft falsch an. Wir werden hart daran arbeiten müssen, die Verhältnisse so zu prägen, dass das so leicht nicht wieder passieren kann.
„Also“, sagte Frisch, „…frage ich uns, ob wir nicht vielleicht das Theater überschätzt haben – Theater als moralische Anstalt. Theater als politische Anstalt, Theater als Tribunal oder wie immer wir`s etikettieren mögen, um es von Zirkus und night-club zu unterscheiden … Fragen wir uns ohne Sorge um die Rechtfertigung staatlicher Zuschüsse: Was war dran? nicht für uns, sondern für die Gesellschaft?“
Was ist dran am Theater? In der kulturleeren momentanen Welt sehen wir uns einer Spaltung gegenüber, einem nie da gewesenen Riss, einer Zäsur in Narrativen, Gewissheiten, gesellschaftlichen Verabredungen. Wir sehen Menschen entgleiten und Fronten verhärten, wir sehen Sprache verrohen und Abgrenzung zum Alltäglichen werden. Eine Krise, die uns auf eine Probe stellt, die Transformationsprozesse beschleunigt und radikalisiert. Wer könnte besser als das Theater wieder Verbindlichkeiten schaffen, das Zarte wieder hervorkehren, dem Differenzierten Raum geben, die Härte und das Funktionale für einen Moment aufheben im Irrationalen, Magischen, Verrückten.
Unsere Theater sind von transformativer Kraft, sie bringen das zu Erinnernde und das zu Gestaltende zusammen, sie geben Raum für den Schmerz und den Verlust, wie für die Visionen. Und werden jetzt dringender als je gebraucht, wenn wir uns darüber verständigen wollen, wer wir wir als Gesellschaft weiter sein wollen über den Riss hinweg. Was uns ausmacht als Menschen und als politische Wesen.
Noch einmal Max Frisch: „Wie immer das Theater sich gibt, ist es Kunst: Spiel als Antwort auf die Unabbildbarkeit der Welt. …und was sich darstellen lässt, ist immer schon Utopie. … Wir erstellen auf der Bühne nicht eine bessere Welt, aber eine spielbare, eine durchschaubare Welt, die Varianten zulässt, insofern eine veränderbare, veränderbar wenigstens im Kunst-Raum.“
Dass wir um Zukunft und Veränderung ringen, ist Teil der Relevanz, zu der wir uns aufmachen. Wenn wir wieder aufsperren, dann möchten wir Bühnen sein für eine sich verändernde Welt; offene Orte des Austauschs für die Vielen, Orte der Nähe und der Nahbarkeit. Vollends in der Welt, aber keiner Funktionalität unterworfen. Wir wollen Bühnen sein, die den Wandel gestalten.
Unser Geburtstag steht deshalb unter dem Eindruck der Dringlichkeit. Für Nostalgie haben wir keine Zeit: Wir blicken nach vorn – auf große Aufgaben: Wir wollen die gesellschaftlichen, seelischen und künstlerischen Verheerungen der Pandemie bearbeiten. Den Nachhall des Schocks hat noch niemand vermessen. Wir werden die Freiheit der Kunst gegen jene Kräfte verteidigen, die zurück wollen zu tradierten Vorstellungen von Nation und Sittlichkeit, die Räume eng und dumpf machen. Vielfalt ist nicht nur eine Frage der Bühnenprogramme. Es geht darum, welches Publikum wir ansprechen und wie wir den Theaterbetrieb organisieren. Wenn Debatten über Diskriminierung, Rassismus und Machtmissbrauch auch die Theater durchschütteln, dann geht das uns alle an.
Und wir haben uns auf den Weg gemacht. Bereits 2018 haben die Mitglieder des Bühnenvereins einen wertebezogenen Verhaltenskodex vereinbart. Wir werden ihn weiterentwickeln. Und wir werden einen Instrumentenkasten erarbeiten, mit dem der Kodex gelebte Realität wird. Das ist die gemeinsame Verantwortung von Trägern, Intendanzen und Geschäftsführungen.
Auch nach 175 Jahren geht es uns im Bühnenverein um eine Ordnung der künstlerischen Freiheit in Vielfalt. Diese Aufgabe nehmen wir an. Im Sinne Adornos denken wir den besseren Zustand als den, in dem wir ohne Angst verschieden sein können. Wir laden alle ein, auf dieser Basis mit uns das Theater der Zukunft zu bauen – ästhetisch und institutionell.
„Also wieder Skepsis?
Ja.
Also Resignation?
Nein.“
Max Frisch beendet sein Gespräch mit den Tauben mit Optimismus: Gäbe es das Theater nicht mehr, so wäre die Welt vielleicht keine andere aber eine anders gesehene. Theater und Kunst lassen unsere Welt veränderbar erscheinen.
WIE wir die Komplexität und Differenziertheit dieser Veränderungsprozesse in unseren Theater durchleben und befeuern, WIE wir in unserer Kunst Utopie aufscheinen lassen, um unverzichtbar für eine wache, empathische, feinsinnige Gesellschaft zu sein; dieses WIE zu finden, das ist die große Aufgabe der nächsten Zeit.