DEBATTE
12. September 2021
THEATER DER ZUKUNFT
Für ihre Serie „Theater der Zukunft“ hat die Redaktion des Magazins Die Deutsche Bühne, das vom Bühnenverein herausgegeben wird, Theaterkünstler:innen gefragt, welche Impulse sie aus der Coronakrise mitnehmen. In ihren vielfältigen Antworten skizzieren die Befragten Visionen und Utopien, nähern sich ihren Themen aber immer aus der Jetztzeit. So hinterfragen sie die bestehenden Strukturen und nehmen uns mit auf den Weg in das Theater der Zukunft.
Beate Heine
Chefdramaturgin und Stellvertretende Intendantin am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, vorher Schauspiel Köln
Zum Start der Serie kommt Beate Heine zu Wort. Sie träumt von einem virtuellen internationalen Produktionshaus und Theater als multimedialem Tempel.
Die Frage nach dem Theater der Zukunft hat Sprengkraft. Sie impliziert nicht nur die Frage nach Macht und Struktur, sie muss auch unter Aspekten der Diversität, Inklusion und aktuell der Digitalisierung betrachtet werden. Sie fordert uns heraus: „The best way to predict the future is to invent it“, sagt Alan Kay, Pionier der Informatik. Wie also gestalten wir die Zukunft des Theaters aktiv?
Sebastian Hartmann
Regisseur
Seine Forderung ist so radikal, wie es seine Inszenierungen sind: Regisseur Sebastian Hartmann plädiert für ein analoges, antikapitalistisches Theater aus dem Jetzt unserer Gesellschaft heraus. Einen Vorschlag, wie das aussehen könnte, liefert er gleich mit.
Denn das Theater der Zukunft misst sich an dem zur Entfesselung fähigen Theater der Gegenwart. Ein Theater, in dem anderes möglich wird als die Verwaltung der Konvention. Ein selbstbestimmtes Theater mit einer Ausstrahlung, die es Politikern unmöglich macht, über Kürzungen, Schließungen und Gleichsetzung mit Spaßbädern nachzudenken. Die Herausforderungen der Zukunft sind derartig gewaltig, dass ein Theater der Zukunft lernen muss, sogar sehr schnell lernen muss, wie man davon erzählt, dass es eine Welt zu retten gilt.
Nicola May
Intendantin des Theaters Baden-Baden
Nicola May war in einem Sabbatjahr. Dass die Corona-Krise ihre begrenzte Auszeit prägte, hilft nicht unbedingt zu entspannen, fokussiert aber Fragen, die ohnehin die Theaterarbeit prägen. Ihr Plädoyer für ein interpandemisches Theater ist der dritte Teil der Reihe „Das Theater der Zukunft“.
Wir sind in den letzten Jahren durch die unterschiedlichen Voraussetzungen von Seiten der Politik, der immer heterogeneren Publika und der Erwartungen der Theaterschaffenden mehr und mehr in eine Spirale des Genügenwollens geraten. Nun sind wir zurückgeworfen auf das Wesentliche. Wir machen die beglückende Erfahrung, dass nicht nur wir Theaterleute die Bühne und das Spielen vermissen, sondern auch die Zuschauer*innen das Theatererlebnis. Wir haben die Möglichkeit, diesen tiefen Einschnitt für eine Neuorientierung zu nutzen. Wir können fragen: Was fehlt am meisten, wenn die Häuser geschlossen sind? Wie soll und kann unser Theater?
Ludger Engels
Regisseur und Musiker
Mehr Interdisziplinarität wagen, Digitalität aus- und Hierarchien abbauen – Regisseur Ludger Engels ist überzeugt davon, dass die Pandemie systemische Änderungen in der Stadttheaterlandschaft unausweichlich macht.
Für viele Theater bedeutet „interdisziplinär“ nach wie vor die Zusammenarbeit von Oper, Ballett und Schauspiel. Unter Interdisziplinarität versteht man die Nutzung von Ansätzen, Denkweisen oder zumindest Methoden verschiedener Fachrichtungen. Die Künstler der digitalen Branche, die Modemacher, die Museen, der Film wie auch die Entwickler von neuen Technologien kollaborieren seit Längerem miteinander und sind uns in der Entwicklung neuer Formate voraus. Die Räume, in denen Theater und Konzert heute stattfinden, werden den veränderten Anforderungen immer weniger gerecht. Der klassische Theaterraum in seiner Architektur – Zuschauerraum, Proszenium, Bühne – entspricht nicht mehr den Erlebnisräumen vieler Menschen.
Marcus Selg
In der Reihe „Theater der Zukunft“ zieht der Künstler und Theatermacher Markus Selg Parallelen zwischen prähistorischen Höhlenmalereien und digitaler Technik wie VR als Bewusstseinserfahrung des eigenen Selbst. Theater könnte ein ritueller Raum für Gemeinschaft sein.
Die Bühne als eine ritualistische Architektur für Gemeinschaft, ein System des kollektiven Traums. Eine Stätte, an der die unzähligen Realitätszentren, die nach dem Verlust der allgemein geteilten Realität entstanden sind, zu einem Spektrum gebündelt und in ihrer Unterschiedlichkeit erfahrbar gemacht werden können. Die Anwendung des Komplementaritätsprinzips der Quantenphysik, in dem sich scheinbar widersprüchliche, einander ausschließende Beschreibungsweisen wechselseitig ergänzen, kann zu mehr gegenseitigem Verständnis und einem Heilungsprozess innerhalb der Zersplitterungen beitragen. Die archaische Theatermaschinerie (Dea ex Machina), in den digitalen Raum erweitert, gibt den unterschiedlichsten Akteur*innen, menschlichen, nichtmenschlichen, biologischen und synthetischen Intelligenzen, die Möglichkeit, gemeinsam zu spielen. Physikalische Beschränkungen können aufgehoben, das Navigieren zwischen den Welten kann fließend werden. Mit der begehbaren Bühne und VR verfügt das Theater über Möglichkeiten der kollektiven Immersion mit gleichzeitiger körperlicher Anwesenheit im Raum.
Sarah Nemtsov und Sebastian Hannak
Die Komponistin Sarah Nemtsov und der Bühnenbildner Sebastian Hannak, Avantgardisten ihres Fachs, über Wünsche und Utopien fürs Musiktheater – und womit sie am liebsten sofort beginnen würden.
Momentan denken wir viel an das Theater der Vergangenheit, das vergangene Theater. Kaum jemand hätte sich 2019 eine solche Zukunft vorstellen können. Hat die Zukunft denn überhaupt noch Theater? Das scheint gerade die akute Frage. Und auch: Wie wird sich die Pandemie langfristig auf das Theater auswirken und im Theater ausdrücken? Werden die Abdrücke bis ins Innerste gehen und dieses verformen? Wie viel Vergangenes kann es überhaupt noch in einem Post-Covid-Theater geben? Die Verwandlungen, die die Gesellschaft, die Kultur, die Welt durchmachen, werden nachhallen, ganz sicher auch im Theater! Was vermisst du derzeit am meisten, wenn es quasi kein Theater gibt?
Herbert Fritsch
Schauspieler und Regisseur
Herbert Fritsch kann es gar nicht erwarten, wieder so richtig loszulegen. Er fordert professionelle Filmteams am Theater, kann sich Partnerschaften mit kleinen Lichtspielhäusern vorstellen und träumt von einer Art fliegendem Ensemble.
Nicht nur Programme abspulen und auch nicht immer alles Alte wegschmeißen wollen für irgendeine Art von Moderne; stattdessen auf die Bereicherung durch das Fremde schauen: frühes russisches und japanisches Kino, Schauspieler wie Alexander Moissi, der Albaner war, eigentlich nur Italienisch sprach und aus diesem Fremdsein den eigenen Theaterton entwickelte. So etwas zählt, auch in Zukunft. Es macht übrigens Spaß, in diesen Zeiten Karl Valentins Zukunftsvision von den „Zwangsvorstellungen“ zu lesen. Was ich vom Theater will? Vor allem und ganz wichtig: wieder miteinander Sein. Und jeden Tag sich selber fragen: Wie wollen wir spielen? Wozu und warum? Denn – wie gesagt – die Zukunft des Theaters steht in den Sternen. Gegenwart zählt.
Elena Tzavara
Künstlerische Leiterin Junge Oper im Nord Stuttgart
Elena Tzavara kämpft sich durch die Mühen des Theateralltags. Was sich daran ändern könnte? Sie hat da so ihre Ideen…
Die Zukunft des Theaters ist rosarot! Theater ist analoges Supererlebnis. Es läutert den Menschen. Er ist für immer geheilt und auf den richtigen Weg gebracht. Das Gute tritt aus ihm hervor. Zuschauerinnen und Zuschauer umarmen sich friedvoll nach der genialen und in kollektiver Einigkeit genossenen Vorstellung. Was für ein kathartisches Ereignis! Auch ich bin geheilt! Peace forever. Burt Bacharach forever. Das Publikum teilt das Brot. Knack und Back. Back und Knack. Knack und Back. Back und Knack. Knack und Back. Ack. Ack. Ack. Ack. Ack. Ich schlage mein Smartphone vom Nachttisch. Jetzt ist es ruhig.
Prof. Dr. Tina Hartmann
Leiterin des Fachs „Literaturwissenschaft berufsbezogen“ an der Universität Bayreuth
Schon seit Jahrzehnten sind die Opernensembles divers besetzt, und Kriterien von Herkunft und Hautfarbe spielen bei Besetzungen meist eine untergeordnete Rolle. Findet sich hier womöglich ein Funktionsmodell für ein diverses Theater in einer diversen Gesellschaft?
Auf der Bühne dienen die Führungsetagen internationaler Konzerne gerne als Kulisse für menschenverachtende Dramen im Hort ultimativer Ausbeutung. Doch wer einige Spielzeiten am Theater verbracht hat, weiß, die Arbeitsbedingungen sind dort nicht selten deutlich schlechter als in einem DAX-Konzern. Links reden – autoritär handeln hat leider eine lange Tradition in der selbst ernannten moralischen Anstalt. Der „gewaltfreie Ort Theater“, der viel beschworene „Schutzraum Probe“ sind tatsächlich oft Kampfplätze. Und wer Schwäche zeigt, fliegt aus dem System und muss sich schlimmstenfalls noch „im schauspielerischen Ausdruck blockiert“ (Bernd Stegemann) hinterherrufen lassen. (…) Doch die aktuell junge Generation hat erfreulicherweise immer weniger Lust, sich durch jahrelange Demütigungen wie auf der Probe brüllende und herabsetzende Regie durchzubeißen und sich selbst vom theaterspezifischen Unterordnungssystem deformieren zu lassen. Die Skandale zeigen, dass es höchste Zeit ist, Menschen im Theater in umfassendem Sinne nicht länger als Objekte, als Körper und Stimmen im Sinne des alten Fachterminus „Material“, sondern als Subjekte zu behandeln, deren Verletzlichkeit zu respektieren ist, egal ob sie ihren Grund in Hautfarbe, Geschlechtszugehörigkeit, sexueller Orientierung, Handycap oder Ausgrenzungserfahrungen hat.
Samuel Penderbayne
Komponist
Der in Hamburg lebende Komponist Samuel Penderbayne wünscht sich effektive Förderstrukturen nicht nur für große Opernhäuser, sondern auch für kleine, freie Kollektive – damit endlich künstlerische Bewegung in den Musiktheaterbetrieb kommt!
Obwohl Einzelpersonen künstlerisch so selbstermächtigt sind wie noch nie, liegt es in der menschlichen Natur, gemeinsam zusammenzuarbeiten. Die Frage ist nun: Wie groß muss eine Opernproduktion – und eine Operncompagnie – des 21. Jahrhunderts wirklich sein? Neue Zeiten brauchen neue Strukturen: Wie können die Innovationen der Postmoderne und die des Prosumerismus institutionell strukturiert werden? Im Kern sind Allrounder nichts Neues, erleben aber in prosumerischen Zeiten eine Renaissance ihrer Relevanz. Um Strukturen für sie zu konzipieren, kann man in der Vorstellung einer postpandemischen Renaissance das Vergangene reflektieren: Die Künstler:innen der florentinischen Renaissance waren so sehr als Allrounder bekannt, dass der Begriff „Universalgenie“ ins Englische als Renaissance Person übersetzt werden kann.
Das Theatermagazin Die Deutsche Bühne erscheint monatlich und wird herausgegeben vom Deutschen Bühnenverein. Sie berichtet über Schauspiel-, Musiktheater- und Tanzproduktionen mit jeweils einem thematischen Schwerpunkt pro Heft. Außerdem: Premierenvorschau, Personalia aus der Theaterwelt, Reportagen, Essays, Kurzkritiken und Rezensionen zu Büchern, CDs und DVDs.