DEBATTE
27. Mai 2021
Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zum 175-jährigen Gründungsjubiläum des Deutschen Bühnenvereins
„Was wir in Konzertsälen, Theatern, Opern- oder Balletthäusern erleben, sind keine austauschbaren, notfalls verzichtbaren Zugaben. Wir, das Publikum, brauchen Sie, die Regisseure, Schauspielerinnen, Musiker, Tänzerinnen und Sänger ebenso sehr wie Sie ihr Publikum! Wir brauchen Ihre Gesellschaft,
weil wir als Gesellschaft nicht überleben können, ohne diese Begegnung in der Kunst, ohne Austausch, ohne Miteinander und Kontroverse.“
Wer sich unbeliebt machen will, heißt es, beginnt seine Rede mit einer Zahl. Wer sich noch unbeliebter machen will, beginnt sie mit einer Mahnung. Ich werde beides tun und bin mir ziemlich sicher: beides muss sein! Rund 140 öffentlich getragene Stadttheater, Staatstheater und Landesbühnen, rund 200 Privattheater, 130 Opern-, Sinfonie- und Kammerorchester, etwa 80 Festspiele, 600 Gastspielhäuser ohne festes Ensemble, über 400 Tourneetheater- und Gastspielproduzenten ohne festes Haus und dazu eine unübersehbare Zahl an freien Gruppen. Jährlich besucht von Millionen Zuschauern aller Altersgruppen.
Das ist der Stand. Besser, das war der Bestand an deutschen öffentlich und privat getragenen Theatern und Orchestern im Dezember 2020. Diese Inventur lässt sich – nicht nur, aber auch – als eine Bilanz des Deutschen Bühnenvereins lesen, als ein Verdienst seines 175-jährigen Wirkens. Denn diese einzigartige Vielfalt der deutschen Theater- und Orchesterlandschaft und ihr Angebot zu erhalten, zu fördern und zu pflegen, ist das erklärte Ziel und das steht im Mittelpunkt des Deutschen Bühnenvereins. 430 Mitglieder: Stadt- und Staatstheater, Opernhäuser, Privat- und Landesbühnen und Rundfunkgesellschaften zählt der Bühnenverband.
Es ist eine stolze Bilanz. Und so würde sie auch aufgenommen, ja, läge da nicht inzwischen ein Jahr der Pandemie hinter uns, das jede Planung zur Makulatur und jede Kalkulation zunichtegemacht hat. Mit welch stolzer Zufriedenheit könnte ein Bundespräsident sie – diese Bilanz – vortragen, hätte nicht ein Virus einen Strich durch jede Rechnung gemacht: Es sind ja nicht nur die Theater und Orchester unseres Landes, es sind die Menschen, die für sie stehen, die Schauspielerinnen und Schauspieler, Regisseurinnen und Regisseure, Festivalleiterinnen und Festivalleiter, Musikerinnen und Musiker, Sängerinnen und Sänger, die Bühnenbildnerinnen und Bühnenbildner, Requisiteurinnen und Requisiteure, Beleuchterinnen und Beleuchter, Tontechnikerinnen und Tontechniker! Und so viele andere mehr. Es ist ihre Erfahrung, ihr Können, ihr Engagement, ihre Leidenschaft!
Und es ist dieser Reichtum, der auf dem Spiel steht. Ihn zu erhalten, die Vielfalt der deutschen Theater- und Konzertbühnen und -ensembles zu bewahren, auch nach der Pandemie, darum geht es nicht nur dem Bühnenverein. Es ist ein existenzielles Interesse, nicht der Menschen und der vielen Berufe, die ich gerade aufgezählt habe. Es ist ein existenzielles Interesse von uns allen, weit mehr als uns das im Alltag, in seinen Höhen und Tiefen, in Bedrängnissen und der Befreiung daraus, bewusst ist.
Was wir in Konzertsälen, Theatern, Opern- oder Balletthäusern erleben sind keine austauschbaren, notfalls verzichtbaren Zugaben – nicht „nice to have“, nicht der Zuckerguss über einem Alltag, der auch ohne Kultur auskäme. Wir, das Publikum, brauchen Sie, die Regisseure, Schauspielerinnen, Musiker, Tänzerinnen und Sänger, ebenso wie Sie ihr Publikum!
Wir brauchen Ihre Gesellschaft, weil wir als Gesellschaft nicht überleben können, ohne diese Begegnung in der Kunst, ohne Austausch, ohne Miteinander und auch nicht ohne Kontroverse. Eine Gesellschaft hört auf zu existieren ohne diesen öffentlichen Raum. Ohne ein Gegenüber in der Kunst, ohne die Entwürfe und Gegenentwürfe unseres Lebens in der Musik, in den Texten, in den Figuren des Theaters und des Films machen wir uns kein Bild von uns selbst. Kultur ist Vielfalt und Begegnung. Kultur hinterfragt, verstört, ist widerspenstig und überschreitet Grenzen. Kultur fördert das Gespräch der Gesellschaft über sich selbst. Kultur ist Grundbedingung von Demokratie!
Kultur und Politik, Theater und Publikum könnten sich also einig sein in ihrer Not – und haben sich doch zuletzt in gallig geführte Debatten verstrickt. Wir streiten über das Für und Wider von Maßnahmen, die, wie ich finde, nur hilfsweise umschrieben sind mit dem Begriff Corona-Politik. Für die Theater und Konzerthäuser bedeutet das, wie für viele andere, ein zähes Ringen um Hygienekonzepte, um das Öffnen oder Schließen von Spielstätten, um Existenzen, um Zukunft.
Die Politik muss entscheiden, regeln, verantworten und legitimieren. Und sie tut das seit einem Jahr, wie sie es eben vermag, in der Pandemie. Fehlbar und kritikwürdig. Doch mein Eindruck ist: sie hat ihre Fehlbarkeit, anders als oft behauptet wird, auch nur selten bestritten. Sie hat nicht vorgegeben, die Situation zu jeder Zeit beherrschen zu können, im Griff zu haben. Sie hat, im Gegenteil erkennen lassen, dass ihr ein Virus und seine Mutationen regelmäßig in die Regie pfuschen, und zwar so lange, bis diese Pandemie unter Kontrolle ist.
Der Deutsche Bühnenverein hat diese Priorität erkannt: Es geht darum, die Kontrolle wiederzuerlangen, damit nicht noch mehr wertvolle Zeit verstreicht. Mit Recht verlangt der Bühnenverein deshalb aber auch eine klare Öffnungsperspektive. Denn es wird viel davon abhängen, wann die Theater und Konzerthäuser wieder öffnen können. Das Förderprogramm Neustart Kultur, mit dem der Bund Spielstätten in der Pandemie unterstützt, ist keine Kompensation für ausgefallene Spielzeit, sondern soll den tatsächlichen Neustart der Häuser begleiten. Ich bin froh, dass über die beschlossenen Maßnahmen hinaus, die Sie alle kennen, die Bundesregierung diese Woche noch einmal 2,5 Milliarden Euro zur Verfügung stellt, um den so dringend benötigten Neubeginn von Kulturveranstaltungen zu beschleunigen und zu sichern. Gerade in einer Zeit, in der noch nicht alle Plätze besetzt werden können. So wird die Frage „wann?“ hoffentlich für ganz viele keine mehr über Sein oder Nichtsein sein, sondern eine Ermutigung für die schrittweise Öffnung bis das ganz große Publikum in die Häuser zurückkehren kann. Die Sehnsucht ist groß, meine auch!
Der Kampf gegen die Pandemie ist erschöpfend. Er zerrt an den Nerven. Ein Stück, in dem ein Hamlet pausenlos die Schicksalsfrage stellt, ist nur schwer zu ertragen. Ich habe deshalb jedes Verständnis für jede Form der Kritik, für Ironie oder was dafür gehalten wird, ja, wenn es sein muss, auch für den Sarkasmus von Schauspielern, die sich dagegen wehren, dass ihnen die Existenzgrundlage entzogen wird. Wer mit Mitteln der Zuspitzung und der Polarisierung arbeitet, muss dann allerdings auch seinerseits mit Reaktionen und beißender Kritik rechnen.
Was ich dagegen nicht erkennen kann, ist, dass in dieser Debatte Meinungen zu irgendeinem Zeitpunkt unterdrückt oder gar sanktioniert wurden, wie manche gesagt und geschrieben haben. Es gibt nur nicht für jede Meinungsäußerung Szenenapplaus. Als Politiker lernt man das beizeiten.
Wie wichtig Freiheit ist, die Freiheit der Meinung wie die der Kunst, muss ich dem Deutschen Bühnenverein nicht erklären, auch nicht, wie hart sie errungen und in der Geschichte dieser 175 Jahre immer wieder verteidigt werden muss. Wenn Träger und Kultureinrichtungen zusammenwirken, dann müssen Interessen abgewogen, Gemeinsamkeiten gefunden und Spielräume verteidigt werden – buchstäblich.
Das ist keine leichte Übung. Für niemanden. Doch wer das durch zwei Jahrhunderte erfolgreich verstanden hat, wer sich als Verband Vertrauen erworben hat, zwei Weltkriege, eine Grippe-Pandemie, die Teilung und die Wiedervereinigung unseres Landes überstanden hat, dem kann man zutrauen, auch die Herausforderungen der kommenden Jahre zu meistern.
Die Bewältigung der Pandemiefolgen für Theater und Konzerthäuser wird ein Kraftakt werden – zweifellos. Ein Kraftakt, der ein gemeinsamer sein muss, ein Zusammenwirken der Theater und Konzerthäuser mit dem Bühnenverein und der öffentlichen Hand. Doch eben das kann und, ich bin sicher, das wird der Bühnenverband erreichen.
„Der Bühnenverein“ hat ein kluger Mann gesagt, „ist kein Verein, er ist eine Vereinigung von Menschen, die das Theater lieben und mit dem Theater ihre Mitmenschen erfreuen, aufregen und bilden wollen. Er ist ein Theatererhaltungsverband in Krisenzeiten, in Zeiten der Not und des Wohlergehens.“ Ich zitiere hier einen Mann, der das qua Amt und Erfahrung besser weiß als ich: den langjährigen Präsidenten des Deutschen Bühnenvereins, August Everding.
Deshalb: Haben Sie Vertrauen, in den Bühnenverein, in die Kraft des Theaters und in Ihr Publikum. Bleiben Sie uns erhalten, möglichst vollzählig. Wir brauchen Sie!
Lesefassung der Rede des Bundespräsidenten
Quelle: https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2021/05/210527-Buehnenverein-Oldenburg.html
Fotos: Stephan Walzl