DEBATTE
5. November 2021
„Betriebliche Wirklichkeit gestalten“
In seiner Rede auf der Jahreshauptversammlung in Hamburg beschrieb Bühnenvereinspräsident Carsten Brosda den Entstehungsprozess der neuen Fassung des Wertebasierten Verhaltenskodex und skizzierte die kommenden Aufgaben bei der Umsetzung: „Wie machen wir aus dem Wertebasierten Verhaltenskodex gelebte betriebliche Realität?“.
Dokumentation der Rede von Dr. Carsten Brosda,
Jahreshauptversammlung des Deutschen Bühnenvereins am 28. Oktober 2021
„Einen substantiellen Blick nach vorne“
Als wir als Bühnenverein im Mai 2021 zum Jubiläumsfestakt in Oldenburg zusammenkamen, haben wir uns vorgenommen, den Wertebasierten Verhaltenskodex aus dem Jahr 2018 auf die Anforderungen der Zeit hin zu prüfen. Wir haben beschlossen, ihn weiterzuentwickeln, um eine Grundlage zu vereinbaren, wie wir heute an den Bühnen, in den Orchestern und bei den Festivals, die Mitglieder des Bühnenvereins sind, zusammenarbeiten wollen.
Das war ein sehr intensiver Prozess. In der Kürze und Dichte der Zeit, die wir für die Überarbeitung zur Verfügung hatten, kam es uns damals beinahe verwegen vor, unser Ziel bis zur außerordentlichen Jahreshauptversammlung im Herbst zu erreichen.
Ich bin daher heute sehr glücklich, dass es uns gelungen ist. Wir haben in Workshops viele Vorschläge gesammelt, sie in Gruppen diskutiert, an die Mitglieder verteilt und von verschiedenen Seiten Rückmeldungen erhalten, die wir dankbar aufgenommen haben. So haben wir jetzt einen Text vorliegen, der einen substantiellen Schritt nach vorne macht.
Rede von Hasko Weber: „Nirgends ist ein Prozess zu Ende“
Wie wird der Wertebasierte Verhaltenskodex in den Häusern angewendet? Darauf ging Hasko Weber, Vizepräsident des Deutschen Bühnenvereins, in seiner Rede auf der Jahreshauptversammlung ein. Er ist Co-Vorsitzender der Intendant:innengruppe, die derzeit eine Erhebung unter den Mitgliedern erarbeitet. Fünf Beispiele sollen die Prozesse vor Ort veranschaulichen. Sie werden demnächst hier vorgestellt.
Letztlich ist auch dieser Text wieder nur ein Zwischenergebnis in einem Verständigungsprozess darüber, was wir als notwendig erachten. Er kann immer nur Zwischenergebnis sein.
2018 wurde ein Kodex vor dem Hintergrund der #MeToo-Diskussionen beschlossen – einer Debatte, die wir aus den USA kommend über die dortige Situation in der Filmwirtschaft, auch in Deutschland geführt haben. Der Fokus lag auf sexuellen Übergriffen und Machtmissbrauch.
Wir konnten seitdem feststellen, dass es viele weitere Bereiche gibt, in denen Diskrimierungstatbestände an den Häusern nicht nur theoretisch möglich sind, sondern teilweise auch erlebt wurden. Wir kennen die Berichte aus den verschiedenen Beschwerdestellen und wir kennen die Berichte, die in den Medien und in der Öffentlichkeit diskutiert werden.
An dieser Stelle als Bühnenverein einen normativen Pflock zu setzen, mit dem wir unterstreichen, wie wir uns die Grundlagen des Zusammenarbeitens an unseren Häusern vorstellen, halte ich für einen unabdingbar notwendigen Schritt.
Jetzt geht es maßgeblich um zwei Fragen: Wie machen wir aus einem solchen Dokument gelebte betriebliche Realität? Und mit welchen Instrumenten befördern wir – auch in den unterschiedlichen Rollen, die der Bühnenverein einnimmt –, dass der Kodex nicht nur ein Dokument ist, das an ein schwarzes Brett geheftet werden, sondern das auch zu einer referenzierbaren Grundlage des Zusammenarbeitens werden kann?
„Unsere Verantwortung ernst nehmen“
Diese Auseinandersetzungen beginnen jetzt. Zudem müssen wir uns fragen, wie jetzt der Werkzeugkasten aussehen kann, mit dem wir ebendies gewährleisten können. Das „Wir“ betrifft ausdrücklich alle, die im Deutschen Bühnenverein aus ihren jeweiligen Positionen heraus tätig sind. Und es betrifft ebenso die Rechtsträgerinnen und -träger. Sie alle müssen sich mit verschiedenen Fragen auseinandersetzen:
- Nach welchen Kriterien kann Personal in verantwortlichen Positionen ausgewählt werden?
- Wie können Ressourcen in den Häusern gestaltet werden?
- Wie kann die Schnittstelle zwischen Gesellschafter oder Träger auf der einen und Geschäftsführerinnen und Geschäftsführern auf der anderen Seite gestaltet werden?
- Welche Vereinbarungen sollten getroffen werden? Wie sollten Ziel- und Leistungsvereinbarungen oder andere Formen aussehen, die normieren, um welche wechselseitigen Erwartungen es geht, die zu erfüllen sind?
Der Verhaltenskodex betrifft also auch diejenigen, die in den Häusern Verantwortung dafür übernehmen, dass betriebliche Strukturen funktionieren und die ihrerseits Fragen implizieren:
- Wie sehen betriebliche Vereinbarungen aus, die gemeinsam mit den Personal- und Betriebsräten verabredet werden?
- Wie kann dafür gesorgt werden, dass sie Bestandteil von Verträgen werden, vielleicht auch von Gastverträgen?
- Wie kann dafür gesorgt werden, dass es funktionierende Beschwerdestrukturen gibt?
- Wie können funktionierende Strukturen des Umgangs mit solchen Vorkommnissen geschaffen werden?
All das bedeutet, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, welche Kompetenzen wir in den Häusern ausprägen müssen, damit wir es schaffen, dass die Erwartungen, die wir hier formulieren, auch plausibel eine Aussicht darauf haben, umgesetzt werden zu können.
Der Bühnenverein kann keine Vorgabe machen, wie der Kodex in die betriebliche Realität eingebettet sein soll. Aber als Arbeitgeberverband nehmen wir unsere Verantwortung ernst, unseren Mitgliedern Angebote zu machen, Hinweise und Hilfestellungen zu geben.
Grundsätzliche Vorschläge gibt es bereits viele: von der Gestaltung eines Findungsverfahrens bis zur Frage, welche Schlüsselkompetenzen und Qualifikationen im Leitungsbereich oder im Verantwortungsbereich mit Personalverantwortung gebraucht werden. Hier können wir aus anderen Bereichen und aus anderen Branchen, in denen es solche Strukturierungsprozesse schon gibt, durchaus lernen. Wir tun aber gut daran, auch selbst an Strukturierungen weiter zu arbeiten, damit sich niemand in einer bangen Situation wiederfindet, in der er sich fragt, was jetzt genau zu tun ist.
Wir haben im Erarbeitungsprozess des erweiterten Kodex viele Rückmeldungen bekommen. Darunter sehr viele positive, aber auch zwei Fragen. Die erste: Warum machen wir das überhaupt, wo doch im Prinzip alles – oder zumindest vieles davon – schon Gesetz ist. An einer Stelle im Kodex ist auch von Rechtskonformität die Rede. Die Antwort lautet: Ja, vieles davon ist bereits gesetzlich geregelt. Wir haben ein allgemeines Gleichbehandlungsgesetz und wir haben Diskriminierungsvorschriften, die auch juristisch durchsetzbar sind. Aber: Der Wertebasierte Verhaltenskodex ist eine Handreichung, um dafür zu sorgen, dass man gar nicht erst in eine juristische Auseinandersetzung kommt. Wir lesen ihn vor dem Hintergrund der Debatten, die von außen an uns herantretende Stakeholder führen. Es ist sozusagen ein auf den Schadensfall orientiertes Dokument. Eigentlich ist das eine positive Gestaltung, eine positive Anregung dafür, wie die betriebliche Wirklichkeit so gestaltet werden kann, dass man sich nicht vor Schlichtungsstellen, nicht vor Gerichten, nicht vor Beschwerdestellen wiederfinden muss.
Der Kodex liefert Überlegungen zur betrieblichen Organisation, sodass Missbrauchs- und Diskriminierungsfälle entweder gar nicht erst vorkommen oder dass, wenn solche Vorfälle doch vorkommen, man früh davon mitbekommt und sie so früh ausräumen kann.
Die zweite Frage, die wichtig ist und die von der einen oder anderen Stelle an uns herangetragen wurde, ist die Frage, ob es jetzt der richtige Zeitpunkt ist, sich damit auseinanderzusetzen. Wir kommen aus einer Pandemie und die Rechtsträgerinnen und Rechtsträger fangen an zu fragen, ob die Häuser nicht auch mit ein paar Prozent weniger Mitteln auskommen könnten.
Ist jetzt der richtige Zeitpunkt, um über einen Verhaltenskodex zu reden? Ja, es ist ausdrücklich der richtige Zeitpunkt, jetzt auch darüber zu reden – gleichrangig zu der Frage, warum es wichtig ist, Theater, Orchester und Festivals weiterhin ordentlich zu fördern und auszustatten. Denn diesen Anspruch werden wir nur dann erheben können, wenn wir gleichermaßen in der Lage sind, zu zeigen, dass wir uns darum kümmern, dass wir vernünftige Orte des Arbeitens und der Kunstproduktion sind.
Insofern könnte man fast schon sagen, dass der Kodex auch eine strategische Dimension besitzt, auch wenn wir ihn nicht aus dieser strategischen Dimension angegangen sind. Er erleichtert uns auch das Gespräch mit denjenigen, die Geld ausgeben und in Zuwendungen kleiden, damit die Betriebe ordentlich und vernünftig arbeiten können.
Der nächste Schritt auf der Strecke bis zur nächsten Jahreshauptversammlung Mitte 2022 ist es daher, den beschriebenen Werkzeugkasten zu füllen und Vorschläge zu diskutieren, wie der Kodex vor Ort umgesetzt werden kann.
Schönen Dank.
Carsten Brosda auf der Jahreshauptversammlung des Deutschen Bühnenvereins
Hamburg, 28.Oktober 2021
Es gilt das gesprochene Wort.