DEBATTE
8. November 2021
„Nirgends ist ein Prozess zu Ende“
Wie wird der Wertebasierte Verhaltenskodex in den Häusern angewendet? Darauf ging Hasko Weber, Vizepräsident des Deutschen Bühnenvereins, in seiner Rede auf der Jahreshauptversammlung ein. Er ist Co-Vorsitzender der Intendant*innengruppe, die derzeit eine Erhebung unter den Mitgliedern erarbeitet. Fünf Beispiele sollen die Prozesse vor Ort veranschaulichen. Sie werden demnächst hier vorgestellt.
Dokumentation der Rede von Hasko Weber auf der Jahreshauptverammlung des Deutschen Bühnenvereins am 28. Oktober 2021
„Wir brauchen den Kontakt“
Die markanteste Erfahrung der letzten 18 Monaten ist, dass wir aus unserem Einzelkämpfertum herausgerissen wurden. Theater und Orchester sind, im künstlerischen Sinne, ja auch Konkurrenzunternehmen. Sie stehen vor Ort immer in ihren eigenen Rahmenbedingungen, die gar nicht vergleichbar sind mit denen an anderen Orten. Das hat sich geändert. Es hat sich sogar schon vor der Pandemie geändert, als wir 2018 in Lübeck den ersten Kodex erarbeitet und einstimmig beschlossen haben.
Danach gingen die Fragen los: Was ist das? Wem nützt das? Was machen wir damit? Einige konnten das für sich beantworten und sind aktiv geworden, andere haben es erstmal beiseite gelassen und abgewartet. Wieder andere fanden sich in der Mitte wieder. Und es wurde deutlich, dass die Gesellschaft sich veränderte und die Anforderungen, die der Kodex vorsichtig formuliert hatte, auch von außen an uns gestellt wurden.
Rede von Carsten Brosda: „Betriebliche Wirklichkeit gestalten“
In seiner Rede auf der Jahreshauptversammlung beschrieb Bühnenvereinspräsident Carsten Brosda den Entstehungsprozess der neuen Fassung des Wertebasierten Verhaltenskodex und skizzierte die kommenden Aufgaben bei der Umsetzung: „Wie machen wir aus dem Wertebasierten Verhaltenskodex gelebte betriebliche Realität?“.
Relativ bald setzte in Folge die pandemische Sperre ein, die aber auch einen positiven Aspekt hatte. Wenn auch digital: Wir haben so viel Austausch gepflegt wie nie zuvor. In der Intendant*innengruppe haben wir zweimal im Monat, thematisch vorgegeben, einen Austausch angeboten, der sehr rege wahrgenommen wurde. Das ist nicht mehr zurückzudrehen. Das sollten wir fortsetzen.
Ich sag das hier, weil das auch mit dem Kodex oder dem Austausch zu diesen Themen zu tun hat. Man kann das nicht mehr trennen. Ich will mich deshalb bei allen für diesen Austausch bedanken, für ihre Teilnahme und für das Bestreben und das Engagement, auf der Höhe der Zeit zu sein. Dabei geht es ja um etwas, was uns vorher eher allein beschäftigt hat. Jede:r wusste Bescheid, hatte alle Konflikte schon mal durchgearbeitet und die Lösung im Kopf. Das funktioniert aber nicht mehr. Wir brauchen den Kontakt, wir brauchen die Brücken, wir brauchen auch mal das Scheitern. Das haben wir miteinander gelernt. Ein digitales Format hat ja auch den Vorteil, dass nicht so viel Raum für Eitelkeiten bleibt. Man kommt schneller auf den Punkt, wenn man sich auf ein Thema verständigt. Das kann sehr konstruktiv sein. Vielen Dank an Sie alle, auch vielen Dank an den Vorstand der Intendant*innengruppe an dieser Stelle.
„Wie habt ihr das gemacht?“
Zum Wertebasierten Verhaltenskodex, den wir in Lübeck 2018 beschlossen haben: 2020 haben wir aus dem Vorstand heraus angefangen, bei den Mitgliedern einmal nachzufragen, wie der Stand der Dinge ist: Was hat der Kodex ausgelöst? Wie ist damit umgegangen worden? Da gab es zuerst einen sehr vorsichtigen Rücklauf. Zur letzten analogen Halbjahressitzung in Potsdam im Frühjahr 2020 hatten wir etwa 15 bis 20 Rückmeldungen unterschiedlichster Art. Wir sind dann drangeblieben und inzwischen, bis heute, haben sich 73 Theater und Orchester mit dem Stand ihrer Kodex-Bearbeitung oder der strukturellen Wandlung in ihrem Haus zurückgemeldet. Diese Rückmeldungen sind sehr verschieden. Es gibt eine kleinere Gruppe, die ich am bemerkenswertesten finde, weil sie in aller Offenheit beschreibt: Bei uns ist eigentlich noch nichts passiert. Das hat mich richtig umgehauen, weil ich dachte, dass es vor ein paar Jahren noch nicht möglich gewesen wäre, sich so etwas einzugestehen und dabei nicht defätistisch zu sein, sondern zu sagen: Wir haben mit dem Betriebsrat Probleme gehabt, wir sind dort gescheitert, wir kommen da nicht voran, aber wir versuchen es. Dann gibt es eine sehr große Gruppe, ich würde mal sagen im Mittelfeld, da ist der Kodex in verschiedener Form in Anwendung. Es werden Versuche gemacht, ihn zu integrieren. Oft werden nächste Schritte drangehängt, vor allem mit dem Personalvertretungsgremien. In der dritten Gruppe haben wir etwa 20 Rückmeldungen, die aussagen, dass ihre Häuser auf sehr komplexe Art und Weise mittel- und langfristig Dinge in Gang gesetzt haben, die nicht zurückzudrehen sind. Wir haben diese Rückmeldungen im Vorstand gemeinsam besprochen, es handelt sich also noch nicht um eine prüfende Auswertung.
Die Prozesse an diesen etwa 20 Häusern sind auch noch ausbaufähig, aber wirklich komplex. Das reicht von der Kodex-Verwendung selbst, also der Veröffentlichung im Haus, von Diskussion und Kommunikation, bis hin zur Anpassung und Erarbeitung eigener Fassungen, die dann Bestandteil von Verträgen oder Anhängen zu Verträgen sein können. Vor allem sind in diesen Prozessen auch wichtige neue Handlungsfelder eröffnet worden. Es sind Leitbilder oder Leitlinien für Mitarbeiter:innen oder Leitungsverantwortliche entstanden, manche Top-Down, manche aus den Betrieben heraus. Es sind Betriebsvereinbarungen auf den Weg gebracht worden. Und es gab es auch einen Austausch zwischen den Häusern, den ich sehr konstruktiv finde. Man hat doch auch vergleichbare Größenordnungen von Theatern und Orchestern und es wurde gesagt: Wie habt ihr das gemacht? Könnte man da was übernehmen? Es wurden teilweise auch Komplexe eingearbeitet, die jetzt in den überarbeiteten Kodex eingeflossen sind, beispielsweise im Bereich Anti-Rassismus. Und es hat Ergänzungen im Sinne der Personalbesetzung in den Häusern gegeben, also neue Gleichstellungsbeauftragte, Antidiskriminierungsbeauftragte oder die Einrichtung von Beschwerdestellen. Das gab es an einigen Häusern gar nicht, das ist jetzt vielerorts eingerichtet worden. Die Personalräte oder Betriebsräte spielen dabei eine Riesenrolle. Ich glaube, viele haben die Erfahrung gemacht, dass es gar nicht so einfach war, mit diesen Themen dort vorzukommen. Wenn das aber einmal funktioniert hat, dann können sie sich auch nicht mehr aus der Verantwortung heraushalten. Die Annahme, dass inzwischen noch einige Häuser mehr aktiv geworden sind, habe ich. Ich würde Euch oder Sie bitten, wenn ihr Euch noch nicht gemeldet habt und vielleicht sagt, warum soll ich mich melden, ich mach doch schon etwas bei mir im Haus: Tut es bitte! Denn es sind unsere eigenen Argumente, die wir später für draußen brauchen.
Es gibt mit Sicherheit keine Garantie dafür, dass Häuser, die komplex unterwegs sind, nicht trotzdem Rückschläge erfahren oder sich herausstellt, dass die Geschwindigkeit der Transformation bestimmter Einrichtungen vielleicht auch zu groß ist, weil man noch nicht alle mitnehmen konnte. Die Tatsache, dass bei der unabhängigen Beratungsstelle Themis weiter eine extrem hohe Frequenz von Fallmeldungen eingeht, sollte uns im besten Sinne anspornen.
Der wichtigste Punkt, am Ende, ist der, dass wir unsere Träger:innen brauchen. Die Trägerinnen und Träger, die Gesellschafterinnen und Gesellschafter, als diejenigen, die gewissermaßen von außen, in Verantwortung, auf und in unsere Betriebe gucken. Von denen die finanziellen Mittel kommen und die die speziellen Abläufe eines Theaters oder Orchesters nicht unbedingt immer im Kopf haben. Wenn die mit am Tisch sitzen, und im Gespräch überhaupt erst eingeweiht werden, über solche Aktivitäten mit nachzudenken, wäre das der beste Weg. Darüber haben wir mehrfach im Bühnenverein gesprochen, um dafür zu sensibilisieren. Passiert irgendwas, steht die Politik immer mit in der Verantwortung und kommt auch nicht von Deck. Das wissen inzwischen auch viele. Im Moment bin ich eigentlich ganz hoffnungsvoll, weil der Weg über die Gremien, die Verwaltungsräte oder die Aufsichtsräte zu gehen, das Interesse am Detail fördern kann. Und ein Aufsichtsrat, der sich einmal im Jahr unabhängig mit dem Betriebs- oder Personalrat trifft, mal rein hört und fragt, wie geht’s eigentlich, ihr habt da so viel auf den Weg gebracht, was ist denn da dran, kann uns eigentlich nur nützen.
Wir haben uns bei dieser Sichtung im Vorstand auf fünf Beispiele geeinigt, die wir gern öffentlich nennen möchten. Das ist mit den jeweiligen Kolleginnen und Kollegen abgesprochen. Ich freu mich, dass alle bereit waren, mit in diese Öffentlichkeit einzutreten. Es sind ganz unterschiedliche Häuser: das Staatstheater Braunschweig, das Hessische Landestheater Marburg, die Münchner Kammerspiele und die Otto-Falckenberg-Schule und die Schauburg, das Staatstheater Nürnberg und die Stiftung Oper Berlin. An keinem dieser Häuser und Einrichtungen ist irgendein Prozess zu Ende. Aber es ist in ganzer Breite, manchmal auch aus der Notwendigkeit heraus, wie zum Beispiel bei der Stiftung Oper Berlin, etwas in Gang gekommen. Ich fände es wunderbar, wenn die Möglichkeit genutzt wird, bei diesen Beispielen auch mal genauer hinzuschauen. Allen anderen, die unterwegs sind, ist es natürlich freigestellt, selbst in die Öffentlichkeit zu gehen und zu sagen, guckt her, wir machen das und das. Ich glaube, das hilft uns dann in nächster Zeit auch weiter, mit unserem Kodex klar zu kommen.
Hasko Weber auf der Jahreshauptversammlung des Deutschen Bühnenvereins
Hamburg, 28. Oktober 2021
Es gilt das gesprochene Wort.